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Wozu sich selbst erkennen wollen? Die Reflexion macht träge, streut Zweifel und hindert einen unbeschwert zu handeln. Nichtsdestotrotz schätzen wir die Fähigkeit zur Reflexion und wollen sie nicht missen. Die Reflexion gibt uns die Möglichkeit, aus den Fesseln unseres gewohnten Lebens auszubrechen, schädigende Muster zu erkennen und unser Leben dadurch neu zu gestalten.

Ohne einen Akt der Reflexion schreiten wir unermüdlich hervor. Wir vergessen uns dabei und geben uns dem Leben schlichtweg hin. Ob wir so unsere ästhetischen Ideale verwirklichen, bleibt fraglich. Stattdessen präferieren wir es, unseren Weg bewusst zu gestalten. Wir gehen in uns, überprüfen unsere Umwelt auf unsere Werte und entscheiden uns dann für einen Weg.

Nun ist das in sich gehen kein leichter Akt. Fragen wie „Was will ich?“, „Was kann ich?“ oder „Wie soll ich mich entscheiden?“ können sehr schwierig zu beantworten sein. Sehr häufig gibt es hier keine objektive Antwort, sondern nur subjektive Schätzungen. Das Individuum versucht durch eine Einschätzung der Vergangenheit und Zukunft eine Antwort zu finden. Die eigenen Erfahrungen, die reflektiert werden müssen, dienen dabei als Grundlage.

Sind wir auf dem Weg der Antwortfindung dabei immer ehrlich zu uns? Wir verschätzen und verrechnen uns auch gerne mal. Mal schätzen wir uns besser ein, mal stapeln wir etwas tief. Mal bleiben wir an unserer Vergangenheit verhaftet, mal ignorieren wir sie. Nach Jahren der Reflexion erkennen wir immer wieder neue Facetten an uns. Die Frage, die sich uns nun stellt: Wer bin ich eigentlich?

Die Selbsttäuschung kann nicht ohne die Selbsterkenntnis funktionieren. Wir brauchen eine Vorstellung von uns und der Welt, um uns überhaupt täuschen zu können. Dieser Artikel will in Kürze darstellen, was die empirische Psychologie und die theoretisch-analytischen Geisteswissenschaften zu diesem Thema zu sagen haben.

Kognitive Verzerrungen bzw. Wahrnehmungsfehler

Die Selbsttäuschung bezieht sich auf den Prozess, bei dem Menschen bewusst oder unbewusst eine falsche Vorstellung von sich selbst oder ihrer Umwelt aufrechterhalten. Dies kann geschehen, um z.B. unangenehme Realitäten zu vermeiden oder um spezifische Ziele zu erreichen.

Unbewusste Täuschungen können z.B. durch kognitive Verzerrungen geschehen. Darunter versteht man auftretende Denk- und Wahrnehmungsfehler, die menschliche Entscheidungen beeinflussen. Daniel Kahneman hat in seinem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ fundamental die in uns tief verankerten Denkfehler auf empirischem Wege nachgewiesen. Hier sind einige Beispiele für kognitive Verzerrungen:

  1. Bestätigungsfehler: Die Tendenz, Informationen zu suchen, die unsere vorhandenen Überzeugungen und Meinungen bestätigen, und Informationen zu ignorieren oder abzulehnen, die unseren Überzeugungen widersprechen.
  2. Halo-Effekt: Die Tendenz, eine Person aufgrund einer bestimmten Eigenschaft oder Qualität insgesamt positiv oder negativ zu bewerten, ohne andere Faktoren zu berücksichtigen
  3. Negativitätsverzerrung: Die Tendenz, negative Ereignisse stärker zu bewerten und sich daran zu erinnern als positive.

Diese Aufzählung ist selbstredend nicht vollständig und kann noch durch dutzende Wahrnehmungsfehler ergänzt werden. Sie gibt uns aber Aufschluss darüber, inwiefern unsere alltägliche und doch vermutlich sicher geschätzte Wahrnehmung, trügerisch ist. Selbst wenn wir alle diese Verzerrungen umgehen und unsere Wahrnehmung richtigstellen, stehen wir dennoch vor interessanten Herausforderungen.

Philosophische Herausforderungen der Selbsterkenntnis

„Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“ ist ein bekanntes Sprichwort, das besagt, dass visuelle Darstellungen oft besser dazu in der Lage sind, eine Idee zu kommunizieren, als es eine ausführliche verbale Beschreibung tun könnte. Doch warum ist das so? Bilder lösen in uns Gefühle und Stimmungen aus, die eine Fülle an Informationen in sich tragen. Bilder vermitteln immer eine Perspektive, die im Kontext der visuellen Darstellung zu betrachten ist. Sie geben uns dabei einen näheren Aufschluss über die Beziehung der Elemente im jeweiligen Bild. In aller Regel fällt es uns leichter eine Idee hinter einem Bild zu begreifen als eine abstrakte Idee durch Worte. Daher legen wir in der Regel auch mehr Wert auf die Handlungen eines Menschen, anstatt auf seine Worte. Das Bild der Handlung erzählt uns oft mehr über die jeweilige Person, als es eine Selbstbeschreibung liefern kann. Wie bewegt sich die Person? Elegant, strikt oder entspannt? Welchen Blick hat sie? Welche Klamotten trägt sie? In den kleinen, alltäglichen Sachen steckt oft mehr Erkenntnis über uns selbst als es in unserer besten Selbstreflexion möglich wäre. Wer achtet auf seine Gangart, sein präferiertes Vokabular, Mimik und Gestik? Was verrät es über uns, dass wir selten lachen? All diese Kleinigkeiten sich ins Bewusstsein zu rufen, kann sehr schwierig sein, weil sie im Alltag so schwer wahrzunehmen sind.

Der berüchtigte deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche stand der Selbsterkenntnis kritisch gegenüber. So stellt er fest, dass innerhalb der Sprache, die Worte für die Beschreibung der eigenen inneren Vorgänge und Triebe hinderlich sind, weil sie nur extreme Zustände abbilden:

„Zorn, Haß, Liebe, Mitleid, Begehren, Erkennen, Freude, Schmerz, - das sind alles Namen für extreme Zustände: die milderen mittleren und gar die immerwährend spielenden niederen Grade entgehen uns, uns doch weben sie gerade das Gespinst unseres Charakters und Schicksals“ [1]

Wir tendieren dazu, uns auf die extremen Zustände zu konzentrieren, da sie oft intensiver und unmittelbarer sind. Die milderen Zustände, die Nietzsche als „niedere Grade“ bezeichnet, werden oft übersehen oder als selbstverständlich hingenommen, obwohl sie tatsächlich unser Verhalten und unsere Entscheidungen im Alltag beeinflussen. Uns fehlt es an Worten und Begriffen für die niederen Zustände, sodass wir auf diese nicht achten. Ähnlich wie für die menschliche Gefühlswelt steht es mit dem individuellen Triebleben des Menschen. Die gröberen, wie der Sexualtrieb, lassen sich noch klar benennen, doch bei vielen anderen erweist sich die Triebidentifikation als ein Labyrinth. So kann ein Trieb nach Erkenntnis auch als ein Trieb nach Sicherheit gedeutet werden. Triebe haben zudem ihre individuelle „Ebbe und Flut, ihr Spiel und Widerspiel untereinander“ [2], lassen sich schwer vorhersagen und bleiben dem Menschen zu großen Stücken im Unterbewusstsein verborgen.

Der Wert der Selbsttäuschung

Für unser Leben scheint es oft vorteilhaft zu sein, uns selbst nicht ganz ernst zu nehmen und das Leben unbeschwert und träumerisch von Zeit zu Zeit zu leben. Die Selbsterkenntnis ist nämlich nicht immer ein angenehmer Prozess. Perfektionistische Menschen erkennen an sich unaufhaltbar Makel, wodurch ihr Leben anstrengend wird. Für diese Person macht es durchaus Sinn, sich ab und an von ihrer strengen Kritik zu lösen und ins Reich der Selbsttäuschung einzutauchen. Doch auch hier ist das richtige Maß entscheidend.

Eine Romanfigur, die die negativen Aspekte der Selbsttäuschung verkörpert, ist Jay Gatsby aus F. Scott Fitzgeralds Roman „Der große Gatsby“ [2]. Gatsby ist ein wohlhabender, charismatischer Mann, der ein luxuriöses Leben führt und glamouröse Partys veranstaltet. Seine Selbsttäuschung besteht darin, dass er glaubt, er könne die Vergangenheit zurückholen und die Liebe seines Lebens, Daisy Buchanan, zurückgewinnen, indem er Reichtum und Prestige anhäuft. Gatsby unrealistische Perspektive und große Gier bringen ihn aber in große Schwierigkeiten, die schließlich zu seinem Untergang führen. Seine Selbsttäuschung resultiert in überhöhten Erwarten und einer verzerrten Wahrnehmung der Welt.

Kreativität und Selbsttäuschung

Die Selbsttäuschung muss sich aber nicht zwangsläufig schlecht auf die Person auswirken. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil liegt in der Kreativität, die eine gute Selbsttäuschung entwickeln kann. Indem wir uns von den Einschränkungen der Realität lösen und uns erlauben in einer Welt der Fantasie und Vorstellungskraft zu leben, können wir neue Ideen und Lösungen entwickeln, die uns in unserem Leben weiterbringen. Ob Künstler, Schriftsteller oder Unternehmer. Eine träumerische Selbsttäuschung kann unsere innovativen Fähigkeiten bereichern. Als Beispiel der guten Selbsttäuschung dient uns Cervantes Don Quijote [3], ein Ritter, der sich seinen eigenen Abenteuern und Heldentaten hingibt, obwohl sie in der Realität nicht existieren. Don Quijote verkörpert die Selbsttäuschung in höchster Vollendung. Er sieht sich selbst als tapferen Ritter, der in einer Welt voller Abenteuer und edler Missionen lebt. Durch seine Selbsttäuschung schafft er eine alternative Realität, die seinen Alltag bereichert und ihn dazu inspiriert, sich kreativ und innovativ mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen. Don Quijote schafft es seinem langweiligen Alltag durch seine starke Fantasie etwas Heroisches abzugewinnen und mit großer Freude seinem Leben entgegenzutreten.

Doch warum ist nun die Selbsttäuschung eines Quijotes besser als die eines Gatsbys?

Zunächst einmal die Motivation von beiden Romanfiguren: Don Quijotes Selbsttäuschung entsteht aus seiner Liebe zu Ritterromanen und seinem Wunsch, ein edler Ritter zu sein, der Gutes tut und Abenteuer besteht. Seine Illusionen sind von idealistischen Werten und Vorstellungen geprägt, die darauf abzielen, anderen zu helfen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Im Gegensatz dazu ist Gatsbys Selbsttäuschung von einem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung, Reichtum und der Wiedererlangung der Liebe von Daisy Buchanan getrieben. Seine Illusionen sind von materiellen und egozentrischen Zielen geprägt, die vor allem seinem eigenen Wohl dienen sollen.

Don Quijotes Selbsttäuschung führt ihn dazu, die Realität um sich herum durch die Linse der Ritterromane zu interpretieren, was zu komischen und absurden Situationen führt. Seine Illusionen sind meist harmlos und haben einen charmanten, naiven Charakter.

Gatsbys Selbsttäuschung hingegen besteht darin, dass er glaubt, er könne die Vergangenheit zurückholen und Daisy für sich gewinnen, indem er Reichtum und Prestige erlangt. Seine Illusionen sind gefährlicher, da sie auf unrealistischen Erwartungen basieren und ihn dazu verleiten, sein Leben auf einer Lüge aufzubauen.

Letztendlich hat Don Quijotes Selbsttäuschung trotz ihrer Absurdität positive Effekte auf seine Kreativität und seine Fähigkeit, sich selbst und andere zu inspirieren. Seine Abenteuer führen zu persönlichem Wachstum und bereichern das Leben der Menschen, die er trifft.

Gatsbys Selbsttäuschung hingegen führt zu negativen Konsequenzen für ihn selbst und die Menschen in seinem Umfeld. Sein Streben nach Reichtum und gesellschaftlichem Status bringt ihn in moralisch fragwürdige Situationen und gefährdet sein Da-Sein.

Selbsttäuschung als Lebenskunst

Zusammenfassend ist die Selbsttäuschung als lebenskünstlerische Haltung ein gefährlicher Balanceakt zwischen Realität und Fantasie. Selbsttäuschung ist eine facettenreiche Angelegenheit, die in unterschiedlichen Ausprägungen sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf unser Leben haben kann. Sie wird zur Lebenskunst, wenn wir sie in einer ausgewogenen Weise nutzen, um unsere Kreativität und Inspiration zu fördern, ohne dabei den Bezug zur Realität zu verlieren. Sie kann uns aber auch vor einem Zu-Viel an Realität schützen, indem die Selbsttäuschung unser Leben aufregend und farbenfroh gestaltet.

Nun liegt das Problem jeder Täuschung darin, dass ihr Einfluss unbemerkt bleiben muss, sofern sie als wirkliche Täuschung gelten will. Als Leitprinzip lässt sich annehmen, dass in Zeiten der Sinnlosigkeit oder intensiven Leidens eine kritische Reflexion über die Umwelt und das eigene Selbst angebracht ist: „Sind die Dinge wirklich so, wie ich sie interpretiere?“ sollte dabei als primäre Frage das eigene Handeln anleiten. Don Quijote hat es nicht nötig, seine Vorstellung als nobler Ritter kritisch zu betrachten, da es ihn belebt und mit gutem Mut durchs Leben schreiten lässt. Hingegen hat es ein Gatsby deutlich nötiger, seine falschen Vorstellungen zu revidieren, sofern er sich weiter entwickeln möchte. Somit dient uns das richtige Maß an Selbsttäuschung als ein wichtiges Element für ein ästhetisches Leben.

Quellenangaben:

[1] Nietzsche, Friedrich: Morgenröte § 115

[2] Fitzgerald, F. Scott: Der große Gatsby

[3] Cervantes, Miguel de: Don Quijote

Was Kunst mit ästhetischer Lebensführung gemeinsam hat mit Susanne Hebestadt

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Im Podcast zu Gast die Künstlerin und Philosophin Susanne Hebestadt. Mit ihr gehen wir der Frage nach, was ästhetische Kunst mit dem Leben eines Menschen gemeinsam hat und wo Parallelen zur ästhetischen Lebensführung sind.

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